Wikimedia Deutschland/Umsetzungsleitlinien Universal Code of Conduct
(Link zur englischen Version dieses Textes)
Einschätzung
[edit]Wikimedia Deutschland bedankt sich bei den Freiwilligen für ihren Einsatz an den Entwurfs- und Konsultationsprozessen.
Der neue Vorschlag für die Umsetzungsleitlinien ist viel klarer geworden, viele Missverständnisse, Redundanzen und Ungenauigkeiten sind ausgeräumt und einige Punkte aus unserem ursprünglichen Feedback berücksichtigt worden. Wikimedia Deutschland hat im Wesentlichen noch vier Kritikpunkte:
- UCoC Coordinating Committee (U4C) ist besser erklärt, aber die Überfrachtung dieses wichtigen Committees ist nicht aufgehoben.
- Schutz persönlicher Daten vs. Transparenz: Anzeige öffentlich ist durchaus üblich im Movement, hat aber gravierende Konsequenzen für Betroffenenschutz und bei Falschbeschuldigung.
- Rehabilitierung bei Falschbehauptungen und Resozialisierung der sanktionierten Personen sind unzureichend berücksichtigt.
- Recht auf Anhörung sollte bei nicht öffentlich einsehbaren Sachverhalten gelten, sofern nicht gute Gründe dagegen sprechen.
Wikimedia Deutschland empfiehlt allen Interessierten sich an der Abstimmung im März zu beteiligen. Eine hohe Beteiligung an der Abstimmung ist von zentraler Bedeutung.
Die vier Kritikpunkte
[edit]In teamübergreifenden Konsultationen sowie Abstimmung mit Wikimedia Deutschands Präsidium und Vorstand haben wir folgende vier Punkte herausgearbeitet:
1. U4C – UCoC Coordinating Committee
[edit]Das neu zu gründende UCoC Coordinating Committee (U4C) zur Durchsetzung des UCoC auf globaler Ebene ist im neuen Vorschlag gründlicher und klarer beschrieben, ebenso deren Rollen, Verantwortlichkeiten und Komposition. Außerdem wird genauer ausgeführt, dass auch zukünftig die Verantwortung zunächst bei den Projekt-Communitys- und Affiliate-Strukturen liegt, und nur an das U4C eskaliert wird, wenn diese nicht in der Lage sind, einen Fall zu behandeln oder es keine solchen Strukturen gibt. Ein zuvor befürchtetes “reinregieren” in die Community- sowie WMDE-Strukturen bleibt damit außen vor.
Allerdings ist die Überfrachtung dieses wichtigen Committees nicht aufgehoben. WMDEs Einschätzung nach ist das Komitee so wie entworfen weder ausreichend gut aufgestellt noch unterstützt und läuft somit Gefahr als zentrales Gremium zu scheitern. Das Komitee ist als Freiwilligengremium beschrieben. Die präventiven und die Interventions-Aufgaben des U4C erfordern aber qualifizierte, erfahrene und hauptamtliche oder umfangreich assistierte ehrenamtliche Mitglieder. Es muss sichergestellt werden, dass das U4C von einem gut arbeitenden Sekretariat unterstützt und somit arbeitsfähig und funktional wird. Dieses Sekretariat sollte dann die konkrete Fallbearbeitung übernehmen, um Schnelligkeit und Prozesssicherheit zu gewährleisten und der Erschöpfung der Freiwilligen entgegenzuwirken. Ferner ist ein jährlicher Wechsel der Mitglieder kontraproduktiv, da funktionierende Zusammenarbeit (Vertrauen, Arbeitsstruktur, Aufgabenteilung/-delegation an Hauptamtliche, Einarbeitung in laufende Fälle u.a.) essentiell ist für die professionelle Arbeit, welche sensibel und kritisch für Betroffene und ggf. die Öffentlichkeit ist und daher unter besonderer Beobachtung stehen wird.
WMDE begrüßt die Entscheidung für einen Übergangs-/Einführungsprozess und das U4C Building Committee, die zum Aufbau des U4C führen sollen, und unterstützen insbesondere die Pragmatik der kriteriengeleiteten Auswahl der Mitglieder dieses Aufbaukomitees durch Maggie Dennis (Vice President of Community Resilience and Sustainability bei der WMF) statt das Aufbaukomitee selber durch einen langwierigen Prozess wählen zu lassen.
2. Schutz persönlicher Daten vs. Transparenz
[edit]Es wird im aktuellen Vorschlag der Umsetzungsleitlinien nach wie vor standardmäßig davon ausgegangen, dass die meisten Fälle öffentlich gehandhabt und archiviert werden. Das ist für on-wiki-Fälle, die sich sowieso öffentlich zutragen, der Benutzername oft keine Rückschlüsse auf die Identität der betroffenen Personen zulässt und sie damit auch nicht DSGVO-relevant sind, derzeit usus in de-WP (vgl. Vandalismusmeldung). In seltenen Ausnahmefällen gab es jedoch auch schon nicht öffentliche Anfragen an das Schiedsgericht, was jedoch zu Kritik in der Community führte.
(Wiki)öffentliches Wiki-Hounding, Doxing, Verleumdungen und Falschbeschuldigungen und damit der problematische Umgang mit persönlichen Daten sind auch in de-WP ein Problem, wie u.a. aus den Problemanalysen im WMDE-Projekt Online-Kommunikationskultur bekannt. Man kann argumentieren, dass entsprechend (wiki)öffentliche Markierungen als UCoC-Violation/Löschen/Archivieren von Angriffen und Harassment nötig sind, um diese nicht unwidersprochen wochenlang stehen zu lassen.
Dennoch sollte die Fallbehandlung (Sachstandserhebung durch Anhörung oder Recherche, Diskussion der Interventionen und ggf. Sanktionen) vertraulich und nicht öffentlich erfolgen, vor allem zum Schutz der Beteiligten (Betroffene sowie Menschen unter Verdacht). Oft ist es ratsam, dass Fälle nur einer kleinen Gruppe bekannt sind, die alle eine schriftliche Vertraulichkeitsverpflichtung abgegeben haben und für diese Arbeit geschult sind. Außerdem müssen Betroffene anonym bleiben können und bspw. Angriffe nicht-öffentlich melden können für ihren Schutz und ihre Sicherheit.
Wichtig ist die Sensibilisierung und Aufklärung der Communitys und Mitarbeitenden hinsichtlich Betroffenenschutz und Vertrauensbildung durch Information für Meldeprozesse und Sanktionsentscheidungen, wie u.a. im Rahmen des Fürsorgekonzepts geplant.
3. Rehabilitierung und Resozialisierung
[edit]Es fehlt nach wie vor die Anerkennung, dass die Behandlung eines Falles nicht mit den Sanktionen endet. Neben der Weiterbetreuung der Betroffenen sollte ggf. eine Weiterbeschäftigung mit Täter*innen beschrieben sein und/oder Konsequenzen für die Risikoeinschätzung und die anzupassenden Verfahren in der Präventions/Interventionsarbeit. Wege zu Rehabilitierung, Resozialisierung oder dem Recht auf Vergessenwerden der zu Unrecht verdächtigten Personen sind nicht aufgeführt. In WMDEs Arbeit wird die Rehabilitierung der zu Unrecht verdächtigten Person ein expliziter Bestandteil guter Intervention im Fürsorgekonzept sein, da dies zur Akzeptanz von Meldestellen/Fallbearbeitungsstrukturen beiträgt.
4. Right to be heard
[edit]Der erste Entwurf hat sich nicht zum Thema “Recht des Beschuldigten auf Anhörung” geäußert. Die Rechte der Person unter Verdacht wurden gar nicht erwähnt. Der neue Vorschlag enthält diese zwar nun nicht als Standard-Klausel, aber etabliert eine Möglichkeit auf Anhörung in einer globalen Wikimedia-Policy.
WMDE hält das an dieser Stelle für einen guten ersten Schritt und bei Sachverhalten on-wiki für ausreichend. Bei nicht öffentlich einsehbaren Sachverhalten sollte grundsätzlich ein Recht auf Anhörung des Beschuldigten gelten, sofern nicht gute Gründe dagegen sprechen.
In Deutschland müsste eine beschuldigte Person spätestens nach einem Monat über Inhalt der Beschuldigung und über den Namen der meldenden Person informiert werden, schon weil Daten der Person verarbeitet werden. Aber auch hierzu gibt es Ausnahmen, wenn die meldende oder die bedrohte Person ggf. durch die Information an die beschuldigte Person in Gefahr gerät. Liegen ausreichend “Beweise” vor, kann es also in Ausnahmefällen zu einer Sanktionierung kommen, ohne das die bedrohende Person angehört wurde.
Aktuelle Studien zeigen, dass digitale Gewalt ein immer größer werdendes Problem wird. Meinungsbildung in digitalen Medien polarisiert immer mehr und moralisiert immer schneller. Dabei bleiben Betroffene oft auf der Strecke. Das Problem ist nicht, dass falsche Anschuldigungen gemacht werden, sondern dass es nicht genügend Schutz, Meldestellen und Prozesse für Verletzungen von Verhaltensrichtlinien gibt. Im Fall von digitaler Gewalt, wo offensichtlich sexistische, rassistische oder anderweitig diskriminierende Übergriffe stattfinden, muss gerade vermieden werden, dass die Richtlinien nicht auch noch sicherstellen, dass Täter*innen ein Forum bekommen für die erwartbare Zurückweisung der Anklage und die beschuldigte Person sich dazu rechtfertigen muss, wodurch im schlimmsten Fall der Hass noch weiter streut.
Eine bewusste und explizite Anhörung des Beschuldigten kann in bestimmten Fällen laut Ansatz der Restorative Justice eine Konflikttransformation durch ein Wiedergutmachungsverfahren ermöglichen. Das Ergebnis eines solchen Pilotprojekts auf der Plattform Reddit zeigt, dass eine gut moderierte Anhörung dazu führen kann, Online-Belästigung langfristig effizienter zu reduzieren, und zwar durch die Beseitigung der zugrundeliegenden Motivationen von Hass im Netz.
Anmerkung zum neuen Vorschlag
[edit]Abgleich der Community- und Affiliate-Richtlinien mit dem UCoC
[edit]Im aktuellen Vorschlag wird nochmal deutlicher herausgestellt, dass der UCoC ein Mindeststandard ist, den die Projekte und Organisationen einhalten müssen (und viele es auch schon tun), sie aber darüber hinausgehen können. Was noch nicht so klar ist, ist der Weg dahin. Es soll jedenfalls verschiedene Unterstützungsangebote und Mechanismen geben, angepasst auf die jeweiligen Bedürfnisse.
Eine Herausforderung ist, dass die Strafverfolgung zu Hass im Netz oft noch nicht definiert und die Gesetzeslage noch dünn ist. Auch Behörden selber können noch nicht vollumfänglich damit umgehen und sind nicht anwendungssicher im Kontext der Gesetze, die es bereits gibt. Die Verantwortung auf die Projekt- und Affiliates-Strukturen zu verlagern ist dennoch aktuell die beste Option.
Die Umsetzung regionalen Richtlinien entsprechend bleibt noch maximal vage, aber WMDE sieht der Situation für den deutschsprachigen Raum optimistisch entgegen, denn a) haben die Communitys bereits sehr weitgehende Richtlinien, Zuständigkeiten und Umsetzungswege für den Umgang mit Meldungen und Sanktionen onwiki, und b) können die deutschsprachigen Chapter hier gute Unterstützung leisten bzw. von extern dazu holen. --Nicole Ebber (WMDE) (talk) 19:12, 23 February 2022 (UTC)